Schützenvogel

Wenn man über Sinn und Zweck eines zum Teil sechseckigen Stückes Holz nachdenken will, das ausgestattet ist mit stilisierten Flügeln, Schweif und Kopf, auf einer Schießstange (Schießrute i befestigt und dann auch noch mit Hilfe eines Gewehrs regelrecht zerkleinert wird, sind Kenntnisse über die Geschichte der Schützenbruderschaften und des Vogelschießens erforderlich.
Die frühen christlichen Bruderschaften sahen es als ihre Verpflichtung an, Schutz zu gewähren, daher auch der Name Schützenbruderschaft. Es galt, Schwache und Kranke zu schützen, sowie Gemeinden und Städten Schutz vor Angriffen von außen zu geben. In den Statuten der frühen Bruderschaften ist die Bindung an die katholische Kirche und deren Schutz eine der vorrangigen Aufgaben. Heute ist der konfessionsübergreifende christliche Gedanke Stützpfeiler der Bruderschaften. Die Bereitschaft, für ihren Glauben einzustehen, demonstrieren die Schützenbrüder noch heute in der Fronleichnamsprozession, bei der sie symbolisch das Allerheiligste begleiten und beschützen.
Der Englische Langbogen, dessen Pfeile eine Rüstung noch auf 400 Schritt durchschlugen und die Armbrust, deren Gebrauch wesentlich einfacher war, versetzten die Bürger der Gemeinden und Städte in die Lage, ausgebildeten Rittern und Soldaten entgegenzutreten und ihr Heim vor Raub und Plünderung zu schützen.



Der Gebrauch von Bogen und Armbrust erforderte allerdings immer noch viel Übung. Als Motivation, regelmäßig zu üben, wurde einmal im Jahr der beste Schütze ermittelt. Es wurde auf einen hölzernen Vogel, den „Königsvogel“ geschossen. Die Tradition, auf einen Vogel zu schießen, der auf einer Stange befestigt wird, lässt sich bis zur Griechischen Antike zurückverfolgen. Die Schützenbruderschaften und Schützengilden Können ihren Königsschuss, belegt durch alte Statuten und Schützenregeln, bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen. Ein Papagei war es, der mit gekonnter Hand aus Holz getrieben war und zum Abschuss auf einer Stange (Schießrute) befestigt wurde. Die Vogelbauer der damaligen Zeit nahmen sich diesen Vogel als Vorlage, weil er ein wahrhaft königlicher Vogel war, denn der exotische Papagei war so wertvoll, dass ihn sich nur sehr wohlhabende Oberhäupter leisten konnten.



Im Laufe des 18. Jahrhunderts löste die Taube den Papagei als Schützenvogel langsam ab. Da aber die Taube in den Augen der Kirche ein Bote des Friedens ist, auf den nicht geschossen werden konnte, setzte sich nach und nach der Adler als Königsvogel durch.
Im Laufe der Jahrhunderte, die die Schützenbruderschaften in unserer Region bestehen, haben sie sicher auch die verschiedensten Traditionen entwickelt, um ihren König zu ermitteln. Bis in die heutige Zeit ist das Schießen auf den Königsvogel die Regel. Es gibt allerdings keinerlei Vorgaben in alten Statuten oder Schießregeln, die festlegen, wie ein Schützenvogel aus- zusehen hat. In unserer Zeit wird häufig, wie anfangs erwähnt, ein Stück Holz mit stilisierten Flügeln, Schweif und Kopf verwendet.
Da jeder Schützenzug, jede Gilde und jedes Corps seinen König ermittelt, ist es sicher sinnvoll, den Königsvogel einfach zu gestalten.
Die Tradition, den Schützenkönig durch das Schießen auf eine kunstvoll bemalte Schießscheibe zu ermitteln, ist vor allem bei den Schützenbrüdern aus dem Süden beheimatet.

 

Seine Königsvögel sind wahre Prachtexemplare

„Es gibt keine bessere Werbung als eine gute Arbeit“, lautet das Motto des selbständigen Raumausstatter-Meisters Bernd Wiescholleck. Dieser Wahlspruch gilt offenbar auch für sein ehrenamtliches Engagement: Der 49-Jährige ist Schützenvogel-Bauer. Seine kunstvoll geschnitzten „Flattermänner“ sollen den Königsschuss aufwerten. Rund 50 dieser Handarbeiten – vornehmlich aus Lindenholz – sind in den vergangenen zehn Jahren entstanden. 
Vor ein paar Jahren hat Bernd Wiescholleck sogar einmal probiert, den von ihm in 40-stündiger Arbeit kreierten Vogel selbst von der Stange zu holen. Was den kreativen Holzbüttgener stört: „Normalerweise ist der Königsvogel ein viereckiger Klotz mit stilisierten Flügeln, Schweif und Kopf.“ Lediglich in Westfalen, so weiß der begeisterte Schütze zu berichten, werden die Vögel noch schön ausgeschnitzt. Bernd Wiescholleck greift diese Tradition gern auf – seine Königsvögel sind wahre Prachtexemplare. Die beiden Elemente Schießscheibe und Schützenvogel bringt er gekonnt zusammen: Zu aufwändigen Malereien auf der Scheibe mit rund einem Meter Durchmesser, die meistens charakteristische Merkmale des betreffenden Ortes widerspiegeln, kommt ein kunstvoll geschnitzter Adler, der stolz seine Flügel ausbreitet.

Der „Vater“ so mancher Königsvögel trifft mit seiner Arbeit den Geschmack der Auftraggeber: Die Holzbüttgener Schützen schossen bereits zum zehnten Mal auf einen Königsvogel Marke Wiescholleck, ebenso die Schützen des Bezirksverbandes. Und der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft Furth hat der Holzbüttgener immerhin schon zum dritten Mal ein Prachtexemplar beschert – ein Ende ist nicht abzusehen. Einmal, als Hans-Heinrich Gilges von den Kaarster St. Sebastianern Schützenkönig war, überquerte Bernd Wiescholleck auf entsprechende Bitte hin den Nordkanal, um ausnahmsweise auch für diese Bruderschaft einen stolzen, eines Königsschusses würdigen Adler, zu schnitzen. 
In jedem Vogel steckt Material für rund 150 Mark, hinzu kommen etwa 40 Arbeitsstunden. Wer jetzt meint, Bernd Wiescholleck sei mit diesem Ehrenamt voll und ganz ausgelastet, der irrt gewaltig: Von den rund 70 Orden, die in einer Vitrine einen würdigen Platz gefunden haben, sind etliche von ihm selber entworfen worden. Ein Wiescholleck-Werk ist unter anderem der Orden des Bezirksverbandes Neuss aus Anlass des 50-jährigen Bestehens. Der Hauptmann des Jäger-Fahnenzuges „Heimattreu“, der gerade den Vogel, den der letztjährige Holzbüttgener Schützenkönig Bernd Peters abgeschossen hatte, wieder zusammengeflickt hat, arbeitet mit der Firma Herrmann in Kerpen zusammen, wenn es um Orden geht. Und er fragt selbstverständlich vorab seine Auftraggeber, was auf dem dekorativen Stück alles zu sehen sein soll. 
Bernd Wiescholleck, der 1978 als 16-Jähriger in die Bruderschaft eintrat, ist auch ein Zeichen-Talent – eines, das eigentlich ein Fleißkärtchen verdient hätte: „Ich habe schon meinen ganzen Ort gezeichnet“, gibt er nicht ohne Stolz zu verstehen. Seine Heimatliebe und -verbundenheit wird die entscheidende Triebfeder für sein vielseitiges ehrenamtliches Engagement sein. Hin und wieder greift Bernd Wiescholleck auch zur Schreibmaschine – so ließ er sich im Jubiläumsbuch des Bezirksverbandes Neuss vor einem Jahr zum Thema „Der Schützenvogel“ aus, machte deutlich, dass es sich hierbei um einen Brauch handelt, der bis ins frühe Mittelalter zurück zu verfolgen sei: Zunächst – so ist da zu lesen – wurde auf einen Papagei, dann auf eine Taube und schließlich auf einen Adler geschossen. 
Im vorigen Jahr hat der rührige Heimatfreund außerdem ein 42 Seiten starkes Heft zum Thema „Holzbüttger Haus“ herausgegeben. Ehrenurkunden auf Leder, die Gestaltung der Schützenzelt-Rückwand mit Kirche und Bischofshof als die prägenden Motive sowie das alljährliche Schützenfestplakat gehen ebenfalls auf sein Konto. Darüber hinaus hat sich Bernd Wiescholleck eine kleine Fotosammlung zugelegt: Hier stellt er das Holzbüttgen von einst dem Ort gegenüber, wie er sich heute präsentiert. Nein, das Schützenvögel-Bauen wird trotz all dieser Aktivitäten garantiert nicht vernachlässigt. Dieses Jahr gibt es allerdings nicht mehr viel zu tun – lediglich der zugeigene Vogel muss noch kreiert werden, ein vergleichsweise kleines Tier ohne Schnitzereien.

barni Neuß Grevenbroicher Zeitung

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