Der Bau des Nordkanals
Heute ist nur noch eine Abwasserkloake, was vor 180 Jahren mit gewaltigem
Aufwand begonnen worden war: das Projekt einer Wasserstraße zwischen dem
Rhein bei Neuss und der Maas bei Venlo. Trotzdem ist der „Grand Canal du
Nord“ das einzig sichtbare Überbleibsel der zwanzig Jahre französischer Herrschaft
in der heutigen Stadt Kaarst und damit, trotz seines traurigen Zustandes,
ein wichtiges historisches Denkmal. Er bildete bis 1974 die Grenze zwischen
den Gemeinden Büttgen und Kaarst und diente zugleich als Leitlinie für die
1877 eröffnete Bahnstrecke Neuss-Viersen und die neben ihm erbaute
Chaussee Neuss-Mönchengladbach (B 7). Noch heute ist seine die Stadtteile
von Kaarst trennende Wirkung nicht völlig verschwunden, wenn auch die
Autobahn A 52 seit 1969 den größten Teil des überörtlichen Verkehrs auf sich
gezogen hat.
Der Bau des Nordkanals wurde 1806 von Napoleon angeordnet. Er sollte den
Schiffsverkehr von den holländischen Rheinhäfen nach Antwerpen leiten. Der
Plan des Kanals entsprang politischen Erwägungen: Napoleon hatte über Eng-
land, das er durch kriegerische Mittel nicht bezwingen konnte, die Festland-
sperre verhängt; kein europäisches Land durfte Handel mit der Insel betreiben,
damit auf diese Weise die englische Wirtschaft zum Erliegen gebracht würde.
Doch Holland hielt sich nicht an das Gebot des Kaisers, da es andernfalls selbst
in seinem Handel schwer getroffen worden wäre. Der Bau des Nordkanals, mit
sehr viel Aufwand und Anstrengungen während dreier Jahre betrieben, war als
wirtschaftliche Sanktion gegenüber den Niederlanden gedacht, verlor also
seinen Sinn, als 1810 diese dem französischen Imperium einverleibt wurden.
Der Kanalbau, der bereits von Neuss über Kaarst und Schielbahn bis Neersen
gediehen war, wurde eingestellt, und die fertigen Teile verfielen.
Der Kanal war mit einer Wassertiefe von 2,60 Metern für Lastkähne von 200-
400 Tonnen Ladegewicht berechnet, die von Pferden gezogen („getreidelt“)
wurden. Die Treidelpfade auf den 6 Meter breiten beiderseitigen Dämmen
lagen 1,40 Meter über dem Wasserspiegel; Zugbrücken sollten den Quer-
verkehr überführen. An den Außenseiten der Dämme waren Begleitgräben
vorgesehen, die zur Sicherung des Kanals und zur Entwässerung der
Umgebung dienen sollten. Dadurch erhielt die Gesamtanlage eine Breite von
60 Metern. Eisenbahn und Chaussee haben von diesem imposanten Bauwerk
nicht mehr viel übriggelassen.
Der 1810 bis Neersen fertiggestellte Nordkanal wurde unter preußischer Herrschaft
zwar nicht weitergebaut, aber doch genutzt. Dem Schifffahrtsunternehmer Georg
Stinnes erschien er geeignet, Steinkohlen von der Ruhr ins links-
rheinische Hinterland zu transportieren. Deshalb pachtete er ihn in den zwanziger
Jahren, und auf vier Schiffen wurden nun täglich einige hundert Zentner
Kohlen auf ihm verfrachtet. An mehreren Stellen, so auch in Kaarst, ließ Stinnes
Umladeplätze einrichten, von denen aus Pferdekarren die Kohlen weiter-
beförderten. Auf diese Weise wurden allmählich die knappen Brennstoffe Holz
und Torf durch preiswerte „schwarze Diamanten“ ersetzt.
In den vierziger Jahren verkehrte auf dem Nordkanal eine „Eil-Yacht“ mit
Personenbeförderung zweimal täglich zwischen Neuss und Neersen. Zu Beginn
unseres Jahrhunderts lebten in Kaarst noch Männer, die auf den Treidelpfaden
die Pferde geführt hatten. Das Aufkommen der Eisenbahnen um die Mitte des
19. Jahrhunderts bereitete der Kanalschifffahrt rasch ein Ende.
Der Nordkanal wirkte übrigens wie ein gewaltiger Entwässerungsgraben; er
legte das „Große Bruch“ weitgehend trocken. Deshalb musste schon 1812 der
Kaarster Gemeinderat den Fischerei-Pachtvertrag von Balthasar Tillmann
auflösen, weil es nichts mehr zu fischen gab. Auch die doch ziemlich weit entfernten
Gräben um Haus Vogelsang fielen trocken.
Aus dem Buch „Geschichte der Stadt Kaarst“
Fritz Wüllfing – Der Nordkanal
„Der Nordkanal und seine Geschichte“
Um das Jahr 1800 hatte der Franzosenkaiser Napoleon neben vielen anderen Ländern
auch das linke Rheinufer unter seine Herrschaft gebracht. Das Inselreich England hätte
er gerne erobert. Die Engländer hatten eine starke Kriegsflotte, so dass Napoleon mit
seinen Soldaten in England nicht landen konnte. Die Engländer waren damals ein
bedeutendes Handelsvolk. Die englische Handelsschiffe brachten Waren aller Art in alle
Länder. Da Napoleon die Engländer nicht mit den Waffen besiegen konnte, wollte er
ihnen wenigstens wirtschaftlichen Schaden zufügen. Allen Ländern, die zu seinem großen
Reiche gehörten, gab er den Befehl, keine Waren von den Engländern zu kaufen:
Kontinentalsperre -. Zum König von Holland hatte Napoleon seinen Bruder Josef
eingesetzt. Die Holländer störten sich nicht an dem Befehl Napoleons, weil sie von
England die Waren billiger kaufen konnten, durch die Missachtung seines Verbotes war
Napoleon erbost. Er fasste den Entschluss, Holland vom Handel auf dem Rhein
auszuschließen. An der holländischen Grenze sollte für die Rheinschifffahrt das Ende
sein. Da musste Napoleon unter Umgehung Hollands einen neuen Wasserweg für die
Schiffe bauen, die vom Rhein bis ans Meer fahren wollten. Napoleon besuchte selbst die
Rheingegend. Er bestimmte i. J. 1808, dass ein Kanal gebaut werden sollte. In Neuss-
Grimmlinghausen sollte er an der Erftmündung seinen Anfang nehmen, zwischen
Holzbüttgen und Kaarst, an Schiefbahn, Neersen, an der holländischen Grenze vorbei
durch Belgien bis zur Nordsee gebaut werden.
Im Jahre 1809 wurde mit den Arbeiten begonnen. Zum Ausschachten verpflichtete man
die Bewohner der an- und umliegenden Dörfer und Städte. Jeder männliche Einwohner
musste 3 Tage in der Woche unentgeltlich zur Arbeit antreten. Die Bauern mussten
Pferde und Karren stellen und den Aushub fortschaffen. Frauen und junge Mädchen
wurden ebenfalls zur Arbeit eingesetzt. Wehe dem Bauer und wehe dem Dorfe, wenn
es in seinen Pflichten nachlässig war! Murren gab es im Stillen genug. Eine
Widersetzlichkeit gegen den Befehl des Kaisers Napoleon hätte böse Folgen gehabt.
Schon im nächsten Jahre 1810 erließ Napoleon die Verfügung, die Kanalarbeiten
einzustellen. Er hatte Holland seinem Reiche einverleibt und seinen Bruder Josef als
König abgesetzt.
Nun hatte es keinen Zweck mehr, die Rheinschifffahrt von Holland
abzulenken. Viele Arbeiten waren umsonst getan und tausende Schweißtropfen
vergeblich geflossen.
Im Laufe der nächsten Jahre rutschten die Uferböschungen ab. Das gegrabenen
Kanalbett wurde immer flacher und versandete.
Napoleons Herrschaft war zu Ende. Unsere Heimat kam zu Preußen. Durch die vielen
Kriege war Armut im Lande. Für die Fertigstellung des Kanals hatte man kein Geld. Im
Jahre 1823 veranlasste der Provinzial-Landtag, das erste Stück vom Rhein bis ungefähr
Neersen schiffbar zu machen. Täglich wurde der Kanal von vier langen, flachen Kähnen
befahren. Der Industrielle Stinnes aus dem Ruhrgebiet hatte den Kanal eine Zeitlang
gepachtet, um das ganze Hinterland des Kanals mit Kohle zu versorgen. Die Kähne
brachten die ersten Kohlen in unser Gebiet. Bisher hatte man in unserer Heimat nur
Holz und Torf verheizt. Den Torf stach man in den Sumpfgebieten um Neersen,
Schiefbahn und dem Büttgener Bruch. Die Kähne auf dem Kanal wurden von einem
Pferd gezogen. Am Uferrand war ein schmaler Pfad für das Pferd, Treidelpfad genannt.
Von allen Seiten kamen jetzt die Fuhrwerke, um an bestimmten Kohlenlagern des
Nordkanals Kohlen abzuholen. Die leeren Kähne wurden für die Rückfahrt mit Torf
beladen, den man in den hiesigen Sumpfgebieten gestochen hatte. Man hoffte, den Torf
in den Städten des Niederrheins auf diese Weise abzusetzen. Um das Jahr 1850
verkehrte auch zweimal täglich zwischen Neersen und Neuss ein Personenschiff. Damit
die Fahrt schneller ging, wurde es von zwei Pferden gezogen. Dieses Schiff führte den
stolzen Namen „Eiljacht“.
Um das Jahr 1853 kamen die ersten Eisenbahnen in unser Gebiet (Düsseldorf-Neuss-
Mönchengladbach-Aachen) Die Eisenbahn beförderte Güter und Personen schneller und
bequemer. Der Nordkanal blieb unbenutzt liegen und versandete allmählich immer
mehr, von Wasserpflanzen, Schilf und Algen überwuchert.
Der Nordkanal dient heute der Entwässerung der Bruchlandschaften von Schiefbahn,
Kleinenbroich und Büttgen. Wassergräben durchziehen die Brüche, die das Wasser in den
Nordkanal leiten. Durch diese Trockenlegung des Bruches wurden Wiesen- und
Ackerland gewonnen. Im Büttgener Wald liegt das Klärwerk. Das geklärte Wasser wird
in den Nordkanal geleitet. Öfter muss der Nordkanal von Wasserpflanzen gereinigt und
in größeren Zeitabständen ausgebaggert werden. Der Nordkanal durchfließt Wohngebiete
der Stadt Neuss. Mit Recht wehren sich die Bewohner, wenn
Geruchsbelästigungen auftreten. Die anliegenden Gemeinden haben einen
Nordkanalverband gegründet, der für die Instand- und Sauberhaltung des Kanals sorgt.
Manche Holzbüttgener und Vorster werden sich erinnern, dass sie vor 30 – 50 Jahren als
Jungen im Nordkanal an bestimmten Stellen gebadet und dort das Schwimmen gelernt
haben.
Fritz Wüllfing